
Selbst-Bewusstsein und Seinsorientierung
An dieser Stelle finden sich portionsweise Reflektionen zum Themenspektrum „Atem – Körper – Bewusst – Sein“. Diesmal fragen wir uns: Was ist eigentlich Selbst-Bewusstsein und was resultiert daraus für eine seinsorientierte Körpererfahrung?
Volker Knapp-Diederichs
7/23/20254 min read


Selbst-Bewusstsein und seinsorientierte Körpererfahrung /1
Es gibt ein eigenartiges Phänomen. Das ist ständig präsent, wird jedoch nur äußerst selten wahrgenommen: Die Unmöglichkeit, über den Verstand, über das Denken einen gegebenen Augenblick wahrzunehmen.
Ernst Bloch nannte es das "Dunkel des gelebten Augenblicks", Immanuel Kant sprach vom "Ding an sich".
Das „Hier und Jetzt“ mit dem Verstand zu erfassen, gleicht offenbar nicht nur philosophiegeschichtlich der Quadratur des Kreises. Typischerweise paradieren die Gedanken kreisförmig, drehen Pirouetten auf dem Eis der Vergangenheit. Um verpasste Gelegenheiten, um Unausgesprochenes und Unvollendetes, um Naheliegendes und weit Entferntes, Kindheit, Elternhaus, Scherben über Scherben zersplitterter Spiegel. Oder die Gedanken träumen sich in Zukünftiges, in Erledigungen, die zu tätigen sind, in Pläne, großartige Vorhaben, Hoffnungen, Gewinne, glückliche Fügungen usw. Zukunft, die doch nur in der Gedankenwelt existiert, eine Projektionsfläche repräsentiert, somit eine realitätsferne Energieverschwendung[1] der Denktätigkeit darstellt.
Das Einzige, was existiert, ist das Hier und Jetzt, der gelebte Augenblick. Dort, wo die Gedanken niemals sind und niemals ankommen.
Zu dieser Schlussfolgerung gelangt man, avanciert man zum stillen Beobachter des Flusses der eigenen Denktätigkeit, mit seinem gemächlichen Strömen, Untiefen, seinen Stromschnellen und Wasserfällen.
Aber wer ist diese Beobachterin? Wie ist es möglich, Gedankenflüsse zu beobachten, wahrzunehmen, ohne Gedanke zu sein? Das sind Fragen, mit denen sich traditionelle Weisheitslehren und spirituelle Lehrer wie Eckart Tolle beschäftigen.
Die Instanz, die sich im stillen Beobachter, in dieser Metaebene verbirgt, nenne ich das „Selbst“. Bei der Erkenntnis, mehr zu sein als seine Gedanken, ein Selbst zu sein, kann man von einem „Selbst-Bewusstsein“ sprechen.
Ein Verständnis von „Selbstbewusstsein“, das allerdings weit entfernt ist von jenem, das in der Alltagssprache verwendet wird: denn dieses verweist auf ein dominantes sich in Szene setzendes narzisstisches Ego.
Unsere Kultur ist weitgehend nicht nur mit dem analytischen Denken, sondern auch mit dem daraus abgeleiteten Tun identifiziert („sich regen bringt Segen“, „Arbeit ist Gottesdienst auf Erden“ usw.), vermittels seiner Antizipationspotentiale.
Andere Aspekte menschlichen Potentials bleiben chronisch unterbelichtet, verharren auf einer unterentwickelten und unbewussten Stufe: ein nicht-destruktiver Umgang mit dem Gefühls- und Seelenleben, Würdigung instinktiver und intuitiver Ressourcen, ein ganzheitlicher Umgang mit der inneren und äußeren Natur, von Körper und Seele, kulturell verankerte Bindungen zum Metaphysischen oder Numinosen schlechthin.
Die Welt, wie sie sich in der Moderne darbietet, offeriert hingegen nur wenige Erfahrungsräume, „Selbst-Bewusstsein“ in oben genanntem Sinne zu (er)leben: beim Anblick einer Geburt oder eines Neugeborenen, angesichts von Begegnungen mit Leben und Tod, dem Eintauchen in mystische Erfahrungswelten, in begnadete Augenblicke transpersonaler Liebe schlechthin.
In jenen heiligen Momenten, wo das Denken überwältigt wird, sich in Sprachlosigkeit verliert, dort erwachen Selbst, transgenerative Weisheit oder einfach andächtige Stille zu ihrem Dasein. Es öffnet sich das Tor zu einer Welt des Seins, in der es weder der Worte noch der Gedanken bedarf. Wo ihr Nebel sich lichtet, wird das Heilige, das Mysterium des Lebens erkennbar, und die glühende Wahrheit flammt auf: ich bin ein fühlendes, verbundenes Wesen, ein Seiendes und Gestalt des Seins, das ist.
In solchen Erfahrungen scheint ein Netz aus unsichtbaren Fäden auf, verbindet sich in intensiver Wahrnehmung des eigenen Menschseins, mit dem Selbst, mit dem Sein als solchem. Offensichtlich, dass solche Selbst- und Seinserfahrung auf sinnliche, körperliche, physische Dimensionen verweist.
Gilt es, körperliche Erfahrungswelten einer Seinsorientierung nicht dem Zufall weitgehend seltener existentieller Lebenserfahrungen zu überlassen, sondern als körperlich-seelischen Transformationsraum zu erschließen, dann ist damit ein erstes generelles Verständnis von „seinsorientierter Körpererfahrung“ gelungen.
Dies unterscheidet sich von therapeutischen Modellen, die sich am Machen, an Leistung und Erwartung, einem Feuerwerk von Interaktionsvarianten orientieren. Seinsorientierte Körpererfahrung bezieht sich primär auf das Sein, nicht auf das Machen. Sie reflektiert damit den Antagonismus, dass sich seelische Wirklichkeit zwar auf der Seinsebene („ich bin verzweifelt“, „ich bin voller Selbstzweifel“ etc.) zeigt, ihre therapeutische Veränderung jedoch, wie alles in unserer Kultur, auf der Ebene des Machens und in der Haltung der Macher angestrebt wird.
Eine primär am Sein und nicht am Machen orientierte Herangehensweise trägt der Erfahrung Rechnung, dass die ursprüngliche seelische Wunde des Menschen auf der Seinsebene entstanden ist („ich wollte einfach nur geliebt und angenommen werden um meiner Selbst, wie ich bin, aber nicht um einer erwarteten Leistung oder Erwartung willen ...“). Naheliegend erscheint mir, dass diese Wunde in seiner Tiefe auch nur auf der Seinsebene Transformation erfahren kann.
Allerdings überschreitet die seinsorientierte Körpererfahrung mit dieser Orientierung ein wenig das festgeschriebene Terrains der Methoden der Körperpsychotherapie und moderner Psychotherapie schlechthin. Denn neben der an Handeln („Machen“ als Therapie) und Handlungsfähigkeit („Arbeitsfähigkeit“ als wichtiges Therapieziel) orientierten Grundhaltung basiert diese zudem auf einem Menschenbild, in dem das Gehirn sich als Sitz der Seele des Menschen, als Instanz des Seelenheils und gleichzeitig als Heilmittel inthronisiert hat.
In unserer Kultur ist in der Regel das Gehirn gemeint, wenn man von der Seele spricht. Es ist gemeint, wenn man Leben und Tod definiert („Gehirntod = Tod). Es ist das Gehirn gemeint, wenn man von „Vernunft“ als der Basis unserer gesellschaftlichen Entwicklungen seit der Epoche der Aufklärung spricht.
Wie das Gehirn in seinem Wesen auf das Tun, das Machen, auf Intention und Umsetzung ausgerichtet ist, so sind die Antworten einer sich daraus entwickelten Psychotherapie in erster Linie die des Tuns, des Machens, der Arbeit.
Das Selbst im oben beschriebenen Sinne, gründet sich hingegen auf das Sein und auf jene Quelle und Instanz von Bindung und Verbindung, die kulturübergreifend von jeher mit der Seele des Menschen identifiziert wird: das Herz.
[1] Ihre Spiegelungen finden sich in der technischen Energieverschwendung und Umweltzerstörung dieses Planeten.
(Fortsetzung folgt)
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